LESEPROBE 1

Geldverfassung und Bewusstseinsverfassung

   „Die Geldverfassung strukturiert von außen, wie die gegenläufig-dialektische Identität von Eigen- und Fremdinteresse bei allen mit Geld verbundenen Geschäften praktiziert und inszeniert wird. Die Geldverfassung bestimmt, ob diese prozedurale und motivationale Identität gelingt oder scheitert und pervertiert wird. Die Menschen stellen sich mit ihren Erwartungen, Gewohnheiten, Empfindungsweisen und Verhaltensmustern auf diese vorgegebene Geldverfassung ein. Ja, sie trainieren sich die einschlägigen Wertungs- und Entscheidungsgrundlagen im täglichen Umgang mit dem Geld geradezu als zweite, geldbedingte Natur an.

   Das Geld ist begehrter als die Waren und Leistungen, die man für Geld bekommen kann, um seine anderen Bedürfnisse zu befriedigen. Infolgedessen wird aus dem bedürftigen Menschen in dem Maße, wie er seine menschlichen Bedürfnisse im Übrigen befriedigt hat, der Geldmensch: der homo monetarius. In ihm ist die Geldverfassung restlos als Teil seiner eigenen Bewusstseinsverfassung verinnerlicht. ... Der homo monetarius erlebt sich und die anderen Menschen nicht mehr als bedürftige Menschen, sondern als Mittel und Medium der Geldvermehrung.

   Die Menschen erfahren die alte Geldverfassung zunächst als eine Art sozio-ökonomisches Schicksal, das sie bis zur tief verwurzelten Gewohnheit internalisieren. Auch wenn es an Versuchen, sich gegen die kaum verstandenen Symptome des Geschehens aufzubäumen, nicht gefehlt hat, können sie sich kaum etwas anderes vorstellen. Sie können sich, wenn sie wenigstens zuzuhören vermögen und geistig beweglich genug sind, allenfalls theoretisch mit ihrem Verstand in eine umkonstruierte Welt hineindenken. Aber selbst dagegen pflegt man sich zu wehren, weil man unbewusst die damit verbundene Unsicherheit fürchtet.

  Wird jedoch die Geldverfassung draußen in der sozio-ökonomischen Wirklichkeit umgestaltet in dem kleinen, aber entscheidenden Punkt der Durchhaltekosten auf Liquidität, dann werden sich die Menschen sehr, sehr schnell praktisch darauf einstellen: zunächst bloß aus Klugheit und Geschicklichkeit im wirtschaftlichen Alltag, doch dann allmählich auch in tieferen Schichten ihres Vorstellens, Wahrnehmens, Erwartens und Empfindens. Das tägliche Training hinterlässt, ob sie es wollen oder nicht, Spuren in ihrer Bewusstseinsverfassung, und am Ende wird der eine oder andere auf die abgestreifte Geldordnung zurückblicken wie auf Ruinen alter Tempel, deren Götter sich zurückgezogen haben.“

Prof. Dr. Dieter Suhr
Die Geldverfassung im System der Bedürfnisse - Plädoyer der praktischen Philosophie
für einen postkapitalistischen Monetarismus
in: Hegel-Jahrbuch 1984/1985, S. 67-68.